römisches Porträt - Ausdruck des Wirklichkeitssinns?

römisches Porträt - Ausdruck des Wirklichkeitssinns?
römisches Porträt - Ausdruck des Wirklichkeitssinns?
 
Angesichts der unzähligen erhaltenen, oft sehr individuell wirkenden römischen Porträts wurde die Bildniskunst häufig als typisch römische Errungenschaft bezeichnet, die ihre Wurzeln in einem genuin italischen Wirklichkeitssinn habe. Diese kunsthistorische Einordnung ist allerdings nur zum Teil haltbar, denn physiognomisch sehr differenzierte Bildnisse finden sich seit dem Hellenismus auch im griechischen Osten. Zudem waren es vorrangig griechische Bildhauer, die in der Stadt Rom die frühesten Porträts schufen. Unterschiede zur griechischen Kunst und Kultur bestanden daher weder in einer genaueren oder bewussteren Wahrnehmung der Realität noch in einer größeren Fähigkeit der römischen Bildhauer, individuelle Bildniszüge künstlerisch umzusetzen.
 
Die Wurzeln für das offenkundige Interesse der Römer an der Wiedergabe der menschlichen Physiognomie scheinen vielmehr im ausgeprägten Selbstdarstellungsbedürfnis der Adelsgeschlechter zu Zeiten der römischen Republik zu liegen. In den Atrien der vornehmen Familien standen Galerien mit den aus Wachs modellierten Bildnisbüsten der ruhmreichen Vorväter, die verehrt und bei den prunkvollen Leichenumzügen mitgeführt wurden. Das gesellschaftliche Ansehen wurde an der Anzahl der Ahnenporträts, die ein Angehöriger der Nobilität vorweisen konnte, gemessen. Die Ausdrucksvielfalt der Bildnisse der republikanischen Aristokraten, die auch immer wieder Pathosformeln hellenistischer Herrscherporträts aufgriffen, kann als Ergebnis der politischen Konkurrenzsituation innerhalb der römischen Oberschicht erklärt werden: Die eigene, individuelle Leistung für den Staat sollte sich in möglichst unverwechselbaren Porträts widerspiegeln. Da sich die wesentlichen Botschaften somit ganz in den persönlichen Gesichtszügen konzentrierten, trat an die Stelle des statuarischen Ganzkörperporträts häufig die Bildnisbüste, eine reduzierte Darstellungsform, die der griechischen Kunst unbekannt war.
 
Im Laufe des 1. Jahrhunderts v. Chr. eroberten sich mittlere Gesellschaftsschichten ohne Amt und Rang, insbesondere reich gewordene Freigelassene, das bislang exklusive Adelsprivileg auf ein eigenes Bildnis. Mit ihren von ehrgeizigen Bemühungen um gesellschaftliche Anerkennung gekennzeichneten Physiognomien verwiesen auch sie auf eine persönliche Leistung - auf den Erfolg ihres sozialen Aufstiegs. Da für die meisten Angehörigen dieser Bevölkerungsgruppen die Auszeichnung durch eine Ehrenstatue unerreichbar war, verlegte sich ihre Selbstdarstellung auf den Grabbereich. Der Höhepunkt dieser realistischen Porträtkunst ist ohne Zweifel in der spätrepublikanisch-frühaugusteischen Epoche zu verzeichnen. Zu keiner anderen Zeit wurden so minutiös individuelle Körpermerkmale abgebildet: tiefgefurchte Gesichtszüge, eingefallene Wangen, kahle Schädel, abstehende Ohren, zahnlose Münder, Warzen und andere zufällige Eigenheiten des menschlichen Antlitzes. Auch Frauen und Kinder wurden nun bildnisfähig, selbst wenn allgemeine Schönheitsnormen dazu führten, dass Frauen nur selten so schonungslos realistisch dargestellt wurden wie Männer.
 
Ein starkes Abnehmen in der Bemühung um Porträtähnlichkeit lässt sich erst ab der fortgeschrittenen Regierungszeit des Kaisers Augustus feststellen. Ebenso wie in neuzeitlichen Monarchien und Diktaturen die Frisuren und Bartmoden der Herrscher vorbildhaft wirkten und nachgeahmt wurden, drückten Privatleute ihre Loyalität zum Kaiserhaus dadurch aus, dass sie sich ebenso frisierten wie der Kaiser oder die Kaiserin. Die bildlichen Darstellungen übernahmen folgerichtig nicht nur die leicht veränderbaren Züge des offiziellen Kaiserporträts wie Frisur, Barttracht oder Kopfhaltung, sondern sogar Alterscharakterisierungen und physiognomische Merkmale, bespielsweise Gesichtsfurchen oder Mund- und Augenformen. Das epochentypische »Zeitgesicht« entstand durch einen wechselseitigen Prozess: Einerseits griff der Kaiser herrschende Modeströmungen auf und verknüpfte sie mit Inhalten und Werten, andererseits imitierte die Bevölkerung des ganzen Römischen Reichs die vorgegebene Frisurenmode des allgegenwärtigen Kaiserbildnisses innerhalb kürzester Zeit so akkurat, dass oft nicht mit Sicherheit zwischen Kaiser- und Privatbildnis unterschieden werden kann. Trotzdem sind aber immer wieder auch realistische Strömungen im kaiserzeitlichen Privatporträt zu bemerken, etwa unter Vespasian und Trajan.
 
Dr. Johanna Fabricius
 
 
Das alte Rom. Geschichte und Kultur des Imperium Romanum, bearbeitet von Jochen Martin. Mit Beiträgen von Jochen Bleicken u. a. Gütersloh 1994.
 Bianchi Bandinelli, Ranuccio: Rom, das Ende der Antike. Die römische Kunst in der Zeit von Septimius Severus bis Theodosius I. Aus dem Italienischen übersetzt von A. Seling u. a. München 1971.
 Bianchi Bandinelli, Ranuccio: Rom, das Zentrum der Macht. Die römische Kunst von den Anfängen bis zur Zeit Marc Aurels. Aus dem Italienischen übersetzt von Marcell Restle. München 1970.
 
Römische Kunst, herausgegeben von Bernard Andreae. Freiburg im Breisgau u. a. 41982.
 Simon, Erika: Augustus. Kunst und Leben in Rom um die Zeitenwende. München 1986.
 Zanker, Paul: Augustus und die Macht der Bilder. Sonderausgabe München 21990.

Universal-Lexikon. 2012.

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